Flucht
nach vorn
Anna legte ihre Paddel aus der Hand
und griff nach ihrer Wasserflasche. Dabei
begann das kleine Boot, in dem sie
saß, gefährlich zu schwanken. „Ich kann es nicht fassen, dass ich das wirklich
getan habe!“, flüsterte sie vor sich hin. Sie ließ ihren Blick ehrfürchtig über
das Ufer der Loire gleiten, streckte ihre Nasenspitze der Nachmittagssonne
entgegen und seufzte tief. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie ihre
Sachen gepackt und sich in ihr kleines Cabrio gesetzt. Mit nur einem Ziel:
Endlich einmal die Schlösser der Loire zu besuchen und den Fluss, der sie schon
ihr Leben lang faszinierte, hinabzupaddeln.
„Was willst du denn bei den
Froschfressern?“, hatte Tim ihre Bitte, den nächsten gemeinsamen Urlaub doch
einmal dort zu verbringen, abgeschmettert. „Langweilige Schlösser anschauen und
auf einem französischen Fluss entlang schippern? Na da kann ich mir aber
Schöneres vorstellen“, hatte Tim noch als Sahnehäubchen hinzugefügt.
Wie das
aussah, wusste Anna ganz genau. Zwei Wochen Mallorca, einem Aida Partyschiff oder anderen
Touristenhochburgen. Rösten am Strand und abends feiern. Das war ein Urlaub
ganz nach Tims Geschmack. Anna konnte sich nur zu gut an seine Reaktion
erinnern, als sie ein einziges Mal erwähnt hatte, dass es ihr allergrößter
Traum war, einmal Urlaub in Schottland zu machen. Ein Grinsen machte sich auf
ihrem Gesicht breit. Das erste Mal seit einer Woche begann sie, an der Trennung
von Tim doch etwas Gutes zu sehen.
Natürlich konnte sie es kaum ertragen, dass
sie ihn mit ihrer Nachbarin erwischt hatte. Und dann auch noch in ihrem eigenen
Bett! Ihr fiel ein, dass sie das Bett unbedingt entsorgen musste, wenn sie
wieder zu Hause in Deutschland war. Sie war auch nicht stolz auf ihre eigene
Reaktion. Sie hätte niemals von sich selbst gedacht, dass sie überhaupt zu
einer derartigen Kurzschlussreaktion fähig war. Schließlich war sie doch immer
die Vernünftige gewesen. Aber offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Anna
hatte sämtliche Klamotten des Fremdgängers und seines Flittchens geschnappt,
aus dem Fenster geworfen und dann beide mit lautem Geschrei vor die Türe
gesetzt. Die nackten Tatsachen und die Reaktionen der Anwohner, die sie gerade
wieder vor ihrem inneren Auge sah, entlockten ihrer Kehle ein kleines Glucksen.
Und dennoch - sie hasste Tim und auch die Nachbarin zutiefst. Ihre Brust zog
sich schmerzhaft zusammen. Eine Träne kullerte Annas Wange hinunter und fiel auf
das abgeschabte Holz ihres Paddelboots.
Nein, über Tim war sie noch lange nicht
hinweg. Das Gegenteil von Liebe ist nicht
Hass, sondern Gleichgültigkeit, hatte Elie Wiesel, ein amerikanischer
Schriftsteller und Nobelpreisträger, einmal gesagt. „Gleichgültigkeit“,
wiederholte Anna leise. Motiviert nickte sie sich selbst zu. Ja, genau das war
es, was sie wollte. Gleichgültigkeit Tim gegenüber. So wie er seit Jahren ihren
Wünschen gegenüber gleichgültig gewesen war. So, wie wenig ihn interessierte,
was sie wollte. Und so, wie er jedes Mal mit den Schultern zuckte, wenn er ihre
Gefühle verletzt hatte.
„Sei doch nicht so empfindlich“, waren
die einzigen Worte, die er für ihre sensible Art fand. Sicherlich, Tim besaß
auch seine guten Seiten, sonst wäre Anna nicht fast zehn Jahre bei ihm
geblieben. Allerdings hatte er in der letzten Zeit immer mehr zu meckern an ihr
gefunden. Diverse Male hatte er, der Inbegriff eines Egoisten, sogar ihr
unterstellt, ein solches Exemplar zu sein. Tim gab Anna das Gefühl, alles falsch
zu machen. Egal was sie tat und wie sehr sie sich anstrengte: Sie konnte es ihm
nie recht machen.
Irgendwann, langsam aber sicher, verlor sie einen Teil von
sich selbst. Die Anna, die sie wirklich war. Ob Tims Affäre nun der Grund für
sein Verhalten war, oder nur eine Auswirkung ihrer kaputten Beziehung, konnte
sie nicht sagen. Aber nun interessierte sie das auch nicht mehr.
Aufmunternd
prostete sie sich selbst mit ihrer Wasserflasche, die sie noch immer in den
Händen hielt, zu. Dann machte sie eine ausladende Bewegung damit. „Auf dich
Tim. Eigentlich muss ich dir für dein Verhalten dankbar sein. Sonst hätte ich
all das hier niemals gesehen!"
Sie ließ noch einen letzten Blick über das
Ufer der Loire gleiten. Dann griff sie nach den Paddeln und umschloss sie fest
mit ihren Fingern. Jetzt wusste sie ganz genau, wohin sie ihr nächster Urlaub
führen würde. Nach Schottland.
Fotos: http://www.sxc.hu
Hintergrund: Ich sollte mir zu einem Bild (eine Frau, fotografiert von hinten, in einem Paddelboot auf einem Fluss) eine Geschichte ausdenken. Die Zeilenanzahl war vorgegeben. Das kam dabei raus.
Hintergrund: Ich sollte mir zu einem Bild (eine Frau, fotografiert von hinten, in einem Paddelboot auf einem Fluss) eine Geschichte ausdenken. Die Zeilenanzahl war vorgegeben. Das kam dabei raus.
2 Kommentare:
Ein Freund von mir sagt immer: "Besser allein als schlecht begleitet." Ich finde diesen Satz sehr klug. Wahrscheinlich wird auch Anna bald merken, wie richtig das ist. Oder schickst du ihr noch einen netten Franzosen die Loire hinunter?
Ja, das stimmt. Das ist wirklich ein sehr kluger Satz. Anfangs, als ich die Geschichte geschrieben habe, fiel mir folgendes dazu ein: Manchmal ist es besser, loszulassen, um zu sich zu finden (oder um weiterzukommen). Aber als Titel wäre das natürlich nicht passend gewesen ;-)
Und ne, Anna bekommt keinen netten Franzosen zur Seite gestellt. Die soll jetzt erst mal schön eine Weile für sich blieben. Eine Weile nur mit sich selbst zu sein, tut den meisten Menschen gut. Viele bekommen das nur nicht hin, weil sie nicht alleine sein können. (Das ist zumindest meine bescheidene Meinung).
Aber Marlies und Amarillis Waldfeee auf Facebook möchten gerne wissen, wies weiter geht und von Annas Erlebnisse in Schottland hören, lach. Vielleicht kriegt sie dann nen netten Schotten? ;-)
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